Zeit
Zielgruppe:
Burnout-Gefährdete und für die,
die die Schnauze von der Hetzerei voll haben.
Wenn sie diesen Menüpunkt gelesen haben, sind sie geheilt.
Aber sie werden ihn nicht lesen, da sie keine Zeit haben.
Der Mensch, dem nicht jeden Tag
wenigstens eine Stunde gehört,
ist kein Mensch.
M. Buber
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1 Relevanz und Kernthese
2 Time ist Honey
3 Zeit ist kostbar
4 Der Engel der Langsamkeit
5 Sprüche
6 Ältere Zeugnisse: F. Nietzsche
7 Verdammte Hetzerei
8 Der Hetz-Modus
9 Rudi Rennsemmel wird krank
10 Rudi Rennsemmel wird gesund
11 Burnout
12 Muße-Modus
13 Zeitsouveränität
14 Langeweile
15 Der Augenblick
16 Der Monotonie-Zuschlag
17 50- oder 30-Stunden Arbeitswoche
18 BKM = Bildung, Kultur, Muße
19 Muße: Konstantin Wecker
1
Relevanz und Kernthese
Turboleben mag ein Kick sein,
aber kein Glück!
◙ Relevanz: Warum steht der Menüpunkt am Anfang?
Und warum hat er mehr als fünf Beiträge im ersten
Eingabe-Zyklus? Weil wir alle keine Zeit haben!
Zeit ist die Seele der Welt (Pythagoras).
Die Hetzerei ist der verdammte Fluch der arbeitenden Moderne.
Die Schrecklichkeit dieses Faktums zeigt ein Bild von Goya:
Chronos frisst seine Kinder. Meine seltsame Homepage als
hoffentlich erbauliches Artikel-Archiv ist völlig für die Katz,
wenn niemand Zeit hat, darin müßig zu schmökern.
Nach 30 Wochen-Arbeitsstunden begann bei mir regelmäßig
aggressive Unlust. Ich fluchte herum:
Man lebt doch nicht, um Dinge anzuhäufen.
Man kann auch vor lauter Fleiß blödsinnig werden! (O. Wilde).
Man lebt doch nicht, um zu arbeiten, sondern umgekehrt.
Kurz: Ich will lieber Zeitwohlstand als Güterwohlstand.
◙ Kernthese: Glücklich werden wir nur, wenn wir lernen,
beide Zeit-Modi (schnell und langsam) im rhythmischen Wechsel
zu leben. Zeitspartricks haben wir reichlich.
Wir machen nur den Fehler, die gewonnenen Zeiträume
wieder mit Terminen vollzustopfen.
Dadurch stirbt der Muße- oder Hängematten-Modus,
dessen Unverzichtbarkeit ich zeigen will.
Solange propagierte Konsumwünsche attraktiver
bleiben als Muße, werden Mensch und Welt kaputtgehen.
Hyperkonsum und das Hetzen verhindern zuverlässig
jede Selbstreflexion. Wir kommen uns selbst abhanden
und dümpeln blind in den seelischen und ökologischen Notstand.
Stimmt es eigentlich zu sagen, man habe keine Zeit?
Natürlich nicht – jeder hat gleich viel Zeit
und wer sie sich nimmt, der hat sie.
Die Frage ist, womit und mit wieviel wir sie füllen:
Die Zeitfrage ist eine Wertfrage.
Unser Zeitmanagement spiegelt unsere Prioritäten.
Zeit haben heißt wissen, wofür man Zeit haben will
und wofür nicht. Also auch wissen, was man hochbewusst
und diszipliniert weglässt. In Multioptions-Gesellschaften
wird das Weglassen (bes. für 7er) immer schwieriger!
Wichtiger als die To-do-Liste wird die Not-to-do-Liste.
Man braucht Kriterien für die Auswahl, was uns wesentlich ist.
Dies braucht Besinnung – und für die nehmen wir uns keine Zeit.
Die Aufteilung in Arbeits- und Freizeit greift auch zu kurz,
weil die Zeitsäule der ganz offenen Muße-Zeit vergessen wird.
Wozu soll die gut sein? Man tut nichts – man empfängt.
Anschaulich sagt es ein Satz aus dem Zen:
In eine volle Tasse kann man nichts mehr einschenken.
Die drei scheuen I: Intuition, Inspiration und Imagination
tauchen nur beim Nichtstun auf.
Kurz: Dauernder Zeitdruck zertrümmert den Sinn
für die Buntheit und Schönheit des Lebens.
Dauerturbo vernichtet unsere Glücksempfänglichkeit.
2
Time ist Honey!
Money und äußeres Wohlleben
werden total überschätzt.
Ich wünsche dir statt vieler Gaben
nur die eine, die die meisten nicht haben:
Nämlich Zeit, diese nicht recycelbare Ressource,
die wir vergeuden durch blödes „Gemurkse“.
Ich wünsche dir Zeit, dich zu freuen und zu lachen,
und von Zeit zu Zeit etwas Gutes zu machen.
Ich wünsche dir Zeit, nicht stets zu rennen,
sondern auch mal reichlich zu pennen.
Ich wünsche dir Zeit, recht oft zu lieben,
denn es ist blöd, dass aufzuschieben.
Ich wünsche dir Zeit, oft nach Sternen zu greifen
und dabei zur schönen Seele zu reifen.
Schauen wir doch mal empathisch genau hin:
Wie sehen Gehetzte aus? Bemittleidenswert!
Nur die zeitlich Ausbalancierten sehen fröhlich aus.
Deren Blick ist deutlich offener, er hat Glanz und der
Habitus ist locker bei vitaler Grundspannung.
Der Blick der Dauerturbo-Typen ist gereizt, nervös,
stumpf und grimmig, der Körper verspannt.
Viele kennen das tolle Märchen „Momo“ von Michael Ende.
Dort heißt es: (Die Zeitgestressten)… verdienten mehr Geld
und konnten auch mehr ausgeben. Aber sie hatten missmutige,
müde oder verbitterte Gesichter und unfreundliche Augen.
3
Zeit ist kostbar!
Verplempern wir sie nicht!
Zeit ist tatsächlich das höchste Gut, weil sie nicht recyclebar ist.
Geld kann man leihen, Zeit nicht. Wenn wir sie mit Unsinn füllen,
ist sie vergeudet und kommt nicht wieder.
Wir sollten also sehr genau überlegen, womit wir die Zeit füllen.
Zeit ist unsere Lebenszeit. Mit dem Leben bekommen wir sie
einfach so, wenn es gut geht, sogar 80 Jahre.
Wertvoll, unbegreiflich, geschenkartig. Die Zeit ist immer da.
Sie begleitet uns lebenslang.
Wir können sie nicht fassen, greifen, festhalten.
Sie verrinnt unwiederbringlich in jeder Sekunde.
Sie legt sich vertrauensvoll in unsere Hände,
aber macht keine Vorgaben, wie wir mit ihr umgehen,
wie wir sie gestalten.
Ob wir sie totschlagen oder mit Terminen vollstopfen.
Mit der Zeit wird die Zeit immer wichtiger.
4
Der Engel der Langsamkeit
Jutta Richter
Ein Engel hat immer für dich Zeit,
das ist der Engel der Langsamkeit.
Der Hüter der Hühner, Beschützer der Schnecken,
hilft beim Verstecken und beim Entdecken,
schenkt die Geduld, die Achtsamkeit,
das Wartenkönnen, das Lang und das Breit.
Er streichelt die Katzen, bis sie schnurren,
reiht Perlen zu Ketten, ohne zu murren.
Und wenn die Leute über dich lachen
und sagen, das musst du doch schneller machen,
dann lächelt der Engel der Langsamkeit
und flüstert leise: Lass dir Zeit!
Die Schnellen kommen nicht schneller ans Ziel,
lass den doch rennen, der rennen will!
Ein Engel hat immer für dich Zeit,
das ist der Engel der Langsamkeit.
Der Hüter der Hühner, Beschützer der Schnecken,
hilft beim Verstecken und beim Entdecken,
schenkt die Geduld, die Achtsamkeit,
das Wartenkönnen, das Lang und das Breit.
Er sitzt in den Ästen von uralten Bäumen,
lehrt uns den Wolken nachzuträumen,
erzählt vom Anbeginn der Zeit,
von Sommer, von Winter, von Ewigkeit.
Und sind wir müde und atemlos,
nimmt er unsern Kopf in seinen Schoß.
Er wiegt uns, er redet von Muscheln und Sand,
von Meeren, von Möwen und vom Land.
Ein Engel hat immer für dich Zeit,
das ist der Engel der Langsamkeit.
Der Hüter der Hühner, Beschützer der Schnecken,
hilft beim Verstecken und beim Entdecken,
schenkt die Geduld, die Achtsamkeit,
das Wartenkönnen, das Lang und das Breit.
5
Sprüche
Welcher könnte ihr Favorit sein?
◙ Die Not unserer Zeit besteht in unserer Zeitnot (G. Uhlenbruck).
◙ Die Hetzer schaffen zwar viel, aber kommen sich selbst abhanden (K. P.).
◙ Man braucht Schnelligkeit, um sich Langsamkeit leisten zu können (K. P.).
◙ Wer steigen will, muss Ballast abwerfen.
◙ Wir sollten nicht aus der vita aktiva in die vita contemplativa fliehen, noch umgekehrt, sondern zwischen beiden wechselnd unterwegs sein, in beiden zuhause sein (H. Hesse).
◙ Mische Tun mit Nichts-Tun, dann wirst du nicht verrückt (östliche Weisheit).
◙ Echte Eigenzeit ist ausgefallen, seit wir 7/24 erreichbar sind durch digitale Medien, die mit Lichtgeschwindigkeit bzw. Echtzeit Daten übertragen und uns sogar mobil erreichen. Immer mehr sehnen sich in die Zeit der Postkutsche zurück. (Ach Quatsch – du musst dein Scheiß-Handy nur mal zwei Stunden liegenlassen.)
◙ Wer nicht jeden Tag etwas Zeit für seine Gesundheit aufbringt, wird eines Tages Zeit für seine Krankheit opfern müssen (S. Kneipp).
◙ Gönne dir einen Augenblick Ruhe und du begreifst, wie närrisch du umhergehastet bist (Laotse).
◙ Gegen den Strom strampeln - zu anstrengend. Go with the flow - viel besser! Das Dritte nicht vergessen: Aus dem Fluss steigen, ans Ufer setzen und Pause machen.
◙ Beruflicher Erfolg macht nicht mehr glücklich, wenn ihm zu viele andere Glücksquellen geopfert werden (K. P.).
◙ Nur Aktion oder nur Muße bewirken langfristig eine Flatline: Das Leben erlischt (K. P.).
◙ Die sogenannten Pflichten beziehen ihre Heiligkeit aus einem Mangel an Mut im Kampf um ein Privatleben (H. Hesse).
◙ Viele halten uns Deutsche für das pflichtbewussteste Volk der Welt. Wenn wir da übertreiben, sollten wir gegensteuern: Es ruft die Pflicht, mehr tut sie nicht!
◙ Arbeit mit Augenmaß: Brennen ohne auszubrennen.
◙ Muße ist die Schwester der Freiheit (Sokrates).
◙ Wer keine Zeit zum Träumen hat, findet keine Weisheit (indianisch).
◙ Dumme rennen, Kluge warten, Weise gehen in den Garten (R. Tagore).
◙ Wer sein Begehren der Habgier und dem Ehrgeiz öffnet, verschließt es der Muße (K. P.).
◙ Wer immer nur funktioniert, entzieht sich dem Abenteuer des Lebens (A. Mueller-Stahl).
◙ Manager sind nicht die Krone der Schöpfung, sondern der Erschöpfung. Sie sind eher süchtig als tüchtig.
◙ Zeit ist das wichtigste aller Luxusgüter (H. M. Enzensberger).
◙ Burnout ist die Rebellion der Seele gegen den Hyperkonsum (K. P.).
◙ Werberesistenz: Werbung ist so grausam gut,
weshalb wir schaffen kein´ Entzug (K. P.).
◙ Langeweile = Schwester der Verzweiflung (M. v. Ebner-Eschenbach).
◙ Langeweile = Mangel an innerer Produktivität (E. Fromm)
◙ Der Beschleunigungswahn hat etwas Totalitäres. Der Zwang ist mächtig. Werde mächtiger und bezwing den Zwang! (K. P.).
◙ Der Wecker geht uns auf den Wecker: Er zwingt uns, zu einem Zeitpunkt aufstehen zu wollen, an dem wir nicht aufstehen wollen (W. Eilenberger).
◙ Ausschlafen als Menschenrecht? Das wäre was!
◙ Dilemma: Der Konsumzwang bringt die Erde in die Zang,
doch Konsumverzicht, der liegt uns nicht (K. P.).
◙ Wohnen wir einfach in der unberührten Frische des gegenwärtigen Augenblicks, in der Klarheit des reinen, erwachten Bewusstseins (M. Ricard).
Warum ist Arbeitszeitverkürzung bei Beamten unmöglich? – Weil sie nicht mit weniger Schlaf auskommen.
Man stelle sich vor, um wie viel besser diese Welt wäre, wenn wir alle – wirklich die ganze Welt – um drei Uhr nachmittags unsere Milch und Kekse bekämen und uns dann zu einem Schläfchen niederlegen würden (R. Fulghum).
Das Lebenskarussell dreht sich recht schnell:
Es schleudert uns zur Peripherie.
Zentrierst du dich nie, dann bist du hi! (K. P.)
Kultiviere die Eleganz der Einfachheit und befleißige dich einer gesunden Faulheit!
Niemand hat je auf seinem Sterbebett gesagt: Hätte ich doch mehr Stunden im Büro verbracht!
6
Ältere Zeugnisse
Seit wann ist das Problem bekannt?
Der Ur-Mensch hatte dieses Problem nicht.
Der heutige Uhr-Mensch hat es.
Schon vor 150 Jahren sagte Nietzsche verblüffend hellsichtig
im Vierten Buch seiner „Fröhlichen Wissenschaft“ sinngemäß:
Diese Hetzerei käme aus Amerika und machen nun auch
Europa wild. Es entstehe eine ganz wunderliche Geistlosigkeit.
Man schäme sich der Ruhe.
Langes Nachsinnen mache beinahe Gewissensbisse.
Man lebe wie einer, der fortwährend etwas versäumen könnte.
Lieber irgendetwas thun als nichts.
Dieser Grundsatz mache aller Bildung und allem höheren
Geschmack den Garaus.
Ein weiterer Klassiker, auch schon fast 100 Jahre alt,
ist das Buch des Philosophen B. Russel „Lob des Müßiggangs“.
7
Verdammte Hetzerei!
Maria-Magdalena Robben
Ich sitze auf meinem Leistungspferd und jage durch die Zeit,
Stunde um Stunde, Tag für Tag. Schneller, schneller, mein Pferd.
Dort kannst du Zeit einsparen, Abkürzung, Sonderangebot.
Laufe, mein Pferd, ich will es haben, es lässt mich sparen,
mindestens 10 Minuten am Tag, das sind 70 Minuten pro Woche.
Wie wunderbar, dann können wir uns noch mehr leisten,
ich und du, mein wunderbares Leistungspferd. Jage weiter!
Minute für Minute, Stunde um Stunde, Tag für Tag.
Ich sitze fest im Sattel, halte die Zügel straff,
jage weiter von Termin zu Termin, von Sitzung zu Sitzung,
von Gespräch zu Gespräch, von Kurs zu Kurs. Eile dich,
mein Pferd, damit wir Großes vollbringen in dieser Welt.
Grau ist mein Pferd, grau und schnell wie ein Pfeil.
Ich gebe meinem Grauen die Sporen, treibe es an.
Doch eines Tages klopft die Ruhe an meine schnell
pochende Herzwand. Mein Pferd geht aus dem Galopp in den
Stand, ich flieg’ aus dem Sattel, die Zügel sind mir entglitten,
mein Pferd trabt davon, ich liege im Sand.
„Was willst du von mir?“ so schrei ich verzweifelt.
Halt ein, vergiss nicht, die Zeit, sie ist mein.
Ich schnaube, ich schnaufe, so wie mein Grauer,
und fürchte mich vor der Ruhe, die an meiner Herzwand lauert.
Wie kann ich zur Ruhe kommen nach all dieser Hast?
Ich spüre den inneren Druck als unendliche Last.
Wie ein Roulette Spiel jagen meine Gedanken, meine Gefühle
und Gegensätze in meiner Seele. Gibt es denn überhaupt noch
einen Raum in mir, der zu schweigen versteht,
der ohne Leistung und Druck ganz heil in mir lebt?
Zeig’ mir den Raum, der ohne Bewertung, ohne Leistung
und Zwang, ohne Zeitdruck und Drang,
wo kein andrer zuhause ist als nur ich allein.
Ich spüre den Sand zwischen den Fingern und atme
die duftende Frühlingsluft. Zum ersten Mal, so ist mir,
seh’ ich den Himmel, die Farben der Bäume, das Gras
und höre das Gurgeln des Baches, der neben mir fließt.
Oder ist es in mir? Ich atme tief ein bis auf den Grund
und lasse los, endlich los. Ein Traum holt mich ein:
Ich steh am Altar in einem Kirchlein in meinem Dorf
und halte meine Uhr über die Gaben von Wein und Brot
und bitte um Wandlung meiner hektischen Zeit in Gelassenheit.
8
Der Hetz-Modus
Man kommt sich selbst abhanden
Das Schlimme am Hetz-Modus ist seine Ausschließlichkeit!
Was die sog. Erste Welt auch tut, es geschieht meist
unter Zeitdruck. Von allen Seiten springt es uns an:
SMS, Handy, Fax, und Mails.
Es ist, als ob man zehn Hasen gleichzeitig jagen müsste.
Dieser verfluchte kinetische Imperativ Mach schneller!
hat etwas Selbstquälerisches.
Obwohl sich die Lebenszeit verdoppelt und die Arbeit
halbiert hat, hat niemand Zeit. Wo bleibt sie eigentlich?
Wo zur Hölle ist das verdammte Sparschwein mit der
gesparten Zeit? Die Antwort ist einfach:
Die gesparte Zeit wird sofort mit neuen Terminen vollgestopft.
Hier liegt der Fehler der bloßen Zeitmanagement-Seminare:
Die Zeitspar-Tricks werden paradoxerweise zum Teil
des Beschleunigungssystems. Man hetzt durch den Tag,
als sei das Leben ein zu bewältigendes Pensum,
eine abzuarbeitende, nie endende To-Do-Liste.
Das Dringliche vor dem Wichtigen zu tun, führt bei vielen dazu,
dass für das Wichtige bald überhaupt keine Zeit mehr bleibt.
Es ist ein einfacher Verdrängungsprozess: Das massenhaft
Vordergründige lässt Tiefgründiges nicht mehr zu.
Ein voller Terminkalender ist noch lange kein erfülltes
Leben (K. Tucholsky). Durch die selbst inszenierten
Beschleunigungsturbulenzen kommt der Mensch sich
selbst abhanden. Eigenzeit ist die Zeit des bewussten
Bei-sich-Seins. Ohne das rauscht das Leben an einem vorbei.
Die Hetzer sind nämlich nicht bei sich, sondern neben sich.
Viele sind so beschäftigt, dass sie nicht mehr merken,
dass sie leben. Das schmackhafte Zeitempfinden kommt nur
im Zustand verweilender Langsamkeit.
Nie ist man in der Gegenwart wirklich da,
sondern immer nur auf der Durchreise.
Ausschließlich im Funktionsmodus zu leben,
ist Identitäts-zersetzend. Der höchste Zeitdruck herrscht
zwischen dem 30. und 50. Lebensjahr, recht treffend die
Rushhour des Lebens genannt.
Die Ursache der Hetze ist einfach:
Zu viele Dinge und Optionen! Ab ca. 1990 tauchte erstmals
der vielleicht rettende Begriff Hyperkonsum auf:
Scheinbedürfnisse werden geweckt und der übertriebene
Konsum wirkt wie ein Toxin, das sich langsam anreichert.
Der „Konsumschrott“ nimmt uns die Sicht auf die Dinge,
auf die es wirklich ankommt. Man braucht nur einen Blick
in seinen Keller oder Speicher zu werfen oder einmal genau
hinschauen, was auf einem Wertstoffhof alles weggeworfen
wird. Das gleiche gilt für das Freizeit-Angebot:
In unserer Multioptions-Gesellschaft gibt es ja auch wirklich
unglaublich viele verführerische Möglichkeiten.
Dennoch: Allzuviel Aktion macht eher nervös als glücklich.
Aktivismus ist systematisches Hetzen. Das Leben im Zeitraffer
soll eine Pseudolebendigkeit vortäuschen durch lückenlose
Reizüberflutung. Wir haben alles zum Glück bis auf das Gefühl,
wirklich glücklich zu sein. Was fehlt? Der andere Zeitmodus!
Der ging komplett flöten. Ein neuer Trend in der Arbeitswelt
hat das verschärft: Durch Handy und Mail ist man immer und
sofort erreichbar, sodass alle Leistungsorientierten in einem
permanenten Stand-by-Modus leben. Nie kann man voll
abschalten, jederzeit kann man zu einer Konferenz zitiert
werden oder kurzfristig eine Präsentation aufgebrummt
bekommen. Planbare Freizeit stirbt allmählich aus.
9
Rudi Rennsemmel wird krank
K. P.
Der Projektleiter Rudi Rennsemmel will endlich in die Chefetage
des Konzerns aufsteigen. Er gehört zur Highspeed-Generation,
die unter dem Diktat des kinetischen Imperativs groß wurde:
Erledige alles schnell! In Abwandlung des Beatle-Songs
All you need is love pflegt er sein Mantra: All you need is speed.
Aber mit dem Zeitmanagement steht er auf Kriegsfuß.
Hr. Rennsemmel ist sehr schnell, aber dennoch überall zu spät
und sofort wieder weg. Warten kann er gar nicht:
Zuerst wartet er langsam, dann immer schneller.
Er will immer auf dem Laufenden sein und das bringt ihn
außer Atem. Das Hamsterrad dreht sich immer schneller
und die Loopings häufen sich. So etwas macht schwindelig.
Wen wundert es? Sein Hausarzt warnt ihn vor einem
Burnout-Syndrom. Tatsächlich hat er nun Schlafstörungen:
Obwohl er abends totmüde ist, kann er nicht einschlafen,
weil er noch zu aufgedreht ist. Morgens kommt er nicht
aus den Federn. Er versteht nun, woher das Wort
Morgengrauen kommt. Der Arbeitsalltag mutiert allmählich
von einer Tretmühle zur Klapsmühle. Eines Tages rastet
Speedy Rennsemmel aus: Zur Hölle mit der verdammten Hetze!
Nun habe ich schon drei Zeitmanagement-Seminare
besucht und drei Zeitplaner-Systeme ausprobiert
und hetze immer noch! Ich komme mir vor als würde ich
zehn Hasen gleichzeitig jagen. Ich schaffe zwar mehr,
aber kriege es gar nicht richtig mit. Schlimmer:
Manchmal bin ich so beschäftigt, dass ich gar nicht mehr
wirklich merke, dass ich lebe. Ich bin auch immer seltener froh,
sondern meistens grantig oder gleichgültig.
Nun, er hat den Fehler gemacht, die durch rationelles Arbeiten
gewonnenen Zeiträume wieder lückenlos mit neuen
Terminen zuzuknallen. Aber Rudi Rennsemmel war nicht dumm.
Er merkte es. In einem helllichten Moment durchschaute er den
paradoxen Mechanismus und rief: Ich hab´s:
Das Zeitmanagement dieser Art produziert
genau die Hetze, der ich zu entfliehen versuche!
Die Zeitspar-Tricks werden zum Teil
des Beschleunigungs-Systems!
Speedy besucht nun ein Seminar der gehobenen Stufe
mit der Bezeichnung Zeit-Kultur und zwar
beim berühmten Guru Machmalangsam.
Hier lernt er das Zauberwort: Weglassen!
Und kluge Sätze wie z. B.: Wer steigen will,
muss Ballast abwerfen. Gewinnen sie durch verzichten!
Kultivieren sie die Eleganz der Einfachheit!
In den Seminarräumen des Gurus Machmalangsam hängen
an allen Wänden riesige Abbildungen von Faultieren.
Der Guru doziert: Wenn Gemächlichkeit ein Fehler ist,
wäre das Faultier schon lange ausgestorben,
womit er wohl recht hat. Kurz: Rudi Rennsemmel wird klar,
dass er neben dem Rödeln dringend Zeit zum Trödeln braucht.
10
Rudi Rennsemmel wird gesund
Rudi entschleunigt sein Leben – in Rekordzeit.
Statt Burnout pflegt er nun Timeout. Er hat verstanden,
dass Pausen konstruktives Element des Arbeitens sind.
Auch Multitasking kommt nicht mehr in Frage:
Maximal zwei Tätigkeiten gleichzeitig,
von denen eines das Atmen ist. Dann das Weglassen.
Rudi versteht, dass er der Tyrannei der Hetzerei nur durch
radikale Streichungen entkommen kann, sonst wird er durch
Burnout zwangsentschleunigt. Was streicht er?
Hier lässt sich Rudi vom Pareto-Prinzip überzeugen:
20 % vom Wichtigsten bewirken 80 % des Erfolgs.
Vom weniger Wichtigen möglichst viel in die Tonne kloppen,
denn – wie Tucholsky sagt: Die Basis einer gesunden Ordnung
ist ein großer Papierkorb. All die tollen Tipps sind aber schwer
umzusetzen, weil Rudi einen umsatzgeilen Vorgesetzten hat.
Da können sich nur die Allerstärksten dem Beschleunigungswahn
entziehen. Rudi konnte es, weil die Zeit dafür reif war.
Er ist neulich 40 geworden und will nun endlich klug werden.
Und er schafft es: Er entschleunigt seinen Alltag und arbeitet
und lebt seitdem besser als je zuvor. Ab 50 arbeitet er Teilzeit
und hat nun auch mehr Zeit für Partner, Kinder, Freunde,
Hobbys, Kultur und Muße. Da er erkannt hat, dass man nicht
lebt, um Dinge anzuhäufen, war ihm das Absinken seines
Lebensstandards ziemlich egal. Lieber Downshiften als Schuften,
sagte er öfters. In der Bilanz fühlt er sich glücklicher als vorher.
Seine Schlafprobleme sind verschwunden. Er freut sich
sogar darauf, in den Schlaf zu dämmern. Er sagt: Herrlich,
wie die Müdigkeit in meinem Kopf alle Poren und Ventile öffnet
und das Unbewusste die inneren Filmfestspiele vorbereitet.
Morgens steht er nicht mehr so früh auf, besonders,
weil er merkt, dass ihm beim Übergang vom Schlaf- zum
Wachbewusstsein gute Ideen kommen.
Er ersetzt den früheren Spruch:
Der frühe Vogel fängt den Wurm durch:
Der frühe Vogel kann mich mal.
Rudi ist durchaus schnell geblieben, aber er eilt mit Weile.
Sein neuer Grundsatz lautet: Man braucht Schnelligkeit,
um sich Langsamkeit leisten zu können.
Rudi lernt das geniale Entschleunigungs-Ritual der japanischen
Tee-Zeremonie. Die ewig gleichen Abläufe eines Rituals
stabilisieren und beruhigen das Leben und stiften Geborgenheit
und Einhausung (B.-C. Han). Zu Hause bei Rudi Rennsemmel
hängt über seinem Schreibtisch ein Zitat von Max Frisch:
Wir könnten Menschen sein. Einst waren wir schon Kinder.
Wir standen unterm silbernen Wasserfall. Wir sahen alles.
Wir hielten die Muschel ans Ohr. Wir hörten das Meer.
Wir hatten Zeit.
Und so siegte Rudi gegen die Diktatur der Uhr.
11
Burnout
Die Pest der modernen Arbeitswelt
◙ Beschreibung: Burnout ist die Musterkrankheit für die
ehrgeizige Selbstverausgabung. Prestigesucht, Erfolgsgier,
überquellender Terminkalender, Stress und Überlastung führen
zur heldenhaften Depression. Die Betroffenen sind anfangs
sogar stolz auf ihre Hingabe an Chef und Firma.
Auf der Überholspur ignoriert man alle Warnsignale von Körper,
Geist und Seele bis der Dauerturbo im ständig roten
Drehzahlbereich zum Kolbenfresser führt. Endlich,
endlich auf Eis gelegt, kann man klug werden.
◙ Selbsterkenntnis: Einige wissen gar nicht,
dass sie gefährdet sind! Der innere Antreiber wird so
dermaßen „ich-synton“ empfunden, dass man das eigene
Hetzen als normal und gut empfindet. Tatsächlich verkraften
junge Körper, besonders die 12- und 16-Zylinder-Menschen
unmenschlich viel. Geld verdienen ist ein Kick und eine Art
Betäubungsmittel vor unangenehmen, existentiellen
Lebensfragen. Aber auch umgekehrt gilt: Um sich von schönen
Visionen beflügeln zu lassen, muss man sich ihnen zuwenden.
Aber dafür sind Workoholics einfach zu busy.
Der Sänger Falco sang: No time for revolution!
◙ Test: So können sie herausfinden, ob sie an der
Hurry-Sickness und an einer pathologischen
Leistungsbereitschaft leiden. Entscheiden sie,
inwieweit die folgenden Aussagen auf sie zutreffen:
Grundsätzlich ja: zwei Punkte
Manchmal: ein Punkt
Nein: null Punkte
♦ Ich stehe ständig unter Zeitdruck.
♦ Ich treibe andere häufig zur Eile an.
♦ Ich unterbreche andere und beende ihre Sätze.
♦ Ich schaffe es fast nie, mein Tagespensum zu bewältigen.
♦ Ich kann wegen der vielen Arbeit häufig nicht einmal eine kurze Pause machen.
♦ Ich habe immer noch zu tun, wenn andere bereits ihre Freizeit genießen.
♦ Ich nehme nach Feierabend Arbeit mit nach Hause.
♦ Ich muss in meiner Freizeit immer wieder an liegen gebliebene Dinge denken.
♦ Wenn ich in einem Geschäft länger warten muss, werde ich ungeduldig.
♦ Ich habe Angst davor, nicht mehr alles bewältigen zu können.
♦ Ich bin stets pünktlich und achte streng auf Fristen.
♦ Ich habe häufiger gesundheitliche Beschwerden.
Wenn sie mehr als zehn Punkte haben, sind sie gefährdet.
Versuchen sie, ihr Leben zu entschleunigen, reduzieren sie
Stress und achten sie darauf, genügend Raum
für Erholung und Entspannung zu schaffen.
◙ Reif für Entwicklung: Die meisten werden es erst nach
zehn Jahren Schufterei. Sie beginnen zu spüren,
dass irgendetwas fehlt: Eigenzeit, Muße, Kultur, Stille, Hobby,
Bildung, Kultur, tieferer Sinn. Bei vielen taucht es um die
Lebensmitte auf. Nicht bei allen: Manche wollen einfach
nicht kürzertreten – sie haben noch nicht mal Zeit
für einen Burnout. Gefährdete behandeln ihr Auto besser als
ihren Körper: Monatelang fahren sie im roten Drehzahlbereich.
Wer zu lange wartet, hat es nicht anders verdient und der
Körper zieht die Notbremse: Meist beginnt es mit
Schlafstörungen, chronischer Gereiztheit, Kopf- und
Rückenschmerzen als beliebte psychosomatische Wetterecken
der Seele. Der Herzinfarkt ist die heftigere Keule.
Dann muss man reagieren, da es um Leben und Tod geht.
Wer danach im alten Trott so weiter macht, ist ein Trottel.
Wer dennoch gerne viel bewegt, dem kann folgende
Logik helfen: Wer hetzt, schafft zwar viel, wird aber auf Dauer
krank und stirbt früher, wodurch er insgesamt doch
weniger schafft. Wer täglich für Ausgleich sorgt und auftankt,
lebt gesünder und damit auch länger, wodurch er insgesamt
mehr schafft. Wer nicht jeden Tag etwas Zeit für seine
Gesundheit aufbringt, muss eines Tages sehr viel Zeit für
die Krankheit opfern (S. Kneipp). Der Ausgleich ist fest
einzuplanen und so diszipliniert einzuhalten wie eine Konferenz.
Der Ausgleich wird besonders dann wichtig, wenn man denkt,
dafür überhaupt keine Zeit zu haben. Wer über eine Stunde
zum Arbeitsplatz pendelt, bei dem bleibt die Zeit im wahrsten
Sinne des Wortes auf der Strecke. Den Betroffenen möge es
gelingen, ein oder zweimal pro Woche im Home Office
zu arbeiten. Wem Voranstehendes nicht reicht, der muss zu
radikalen Maßnahmen greifen: Dies braucht jedoch besonders
hohe Bewusstheit und Selbstdisziplin:
Wenn Arbeitszeitverkürzung nicht realisierbar ist,
dann wenigstens den freien Mittwoch- und Freitagnachmittag
mobilisieren. Wer das ab dem 50. Lebensjahr nicht hinbekommt,
sich diese zwei Abseiler-Nachmittage freizukämpfen,
der ist – so behaupte ich provokant und heilig-zornig aggressiv –
nicht genug bewusst oder zu konsumverseucht:
Man kann mit Disziplin einen harten Beruf ausüben und mit
der gleichen Disziplin rechtzeitig damit aufhören.
◙ Typvarianten: Hier kann das Mustermodell des
Enneagramms Kluges beisteuern: Der Umgang mit Zeit ist
individuell sehr unterschiedlich: Zeitdruck ist für einige Eustress,
für die meisten aber ruinöses Gift. Jeder muss seinen
individuell passendes Zeitmanagement finden.
Die Devise lautet: Brennen ohne auszubrennen.
Begeisterung ist toll, solange man bei Kräften bleibt.
Überengagement führt über Selbstausbeutung zum Burnrout.
Die zwei Muster, die oft unter der Hurry-Sickness leiden,
sind 1 und 3:
1 will Perfektion auch im Detail und wird nie fertig.
Dieses Muster möge versuchen, seinen „Inneren Einpeitscher“
zu besiegen und das Pareto-Prinzip trainieren:
20 % vom Wichtigsten bewirken 80 % des Erfolgs.
Auch noch den i-Punkt zu perfektionieren, ist ineffizient,
da dieser unverhältnismäßig viel Zeit beansprucht.
3 möchte bewundert werden und allzu viele Projekte
brillant abschließen. Das wichtigste Mantra für 1 und 3
könnte lauten: Nimm dir nicht zu viel vor!
Sonst fühlt man sich wie eine Mücke am FKK-Strand:
Man weiß nicht, wo man anfangen soll. 2 und 9 sind zu lieb
und lassen sich gerne ausnutzen: Sie sollten das Nein-Sagen
üben, am besten vor dem Spiegel und in allen Sprachen.
9 schiebt gerne auf, 6 ist zu pflichtbewusst, 4 schwankt,
5 ist zeit-geizig, 7 feiert zu viel, 8 zu exzessiv.
◙ Aufschub: Freizeitaktivitäten und Muße auf den
Ruhestand zu verschieben, funktioniert nicht:
Mit 65 wird man träge und will oft einfach nur dasitzen
(vergleiche Loriot). Wer voll in seiner Kraft steht,
kann sich das nicht gut vorstellen. Den Muße-Modus kann
man so gründlich verlernen, dass man ihn nicht wieder erlangt,
denn er ist total anders: Dieser besondere Weltbezug ist nicht
durch Verfügen und Machen gekennzeichnet,
sondern durch Lassen: Seine Qualitäten sind Staunen, Fühlen
und sinnliches Empfinden in Resonanz.
Das braucht Übung und Pflege.
◙ Kampf: Ja, es ist tatsächlich ein Kampf, der einige
Jahre dauert. Anforderungen, Sachzwänge, Zumutungen,
Zeitverdichtung in einer Wettbewerbsgesellschaft sind so massiv,
dass man genauso massiv gegensteuern muss:
Der Kampf läuft über drei Phasen: Bewusstmachungs-Phase,
Experimentier-Phase, Gewöhnungs-Phase.
Sehr hohe Bewusstheit und Stärke sind notwendig,
um sich dem Beschleunigungswahn zu entziehen.
Unreflektierte Menschen, die nur im Trend und Mainstream
mitschwimmen, können es selten schaffen und die meisten
werden weiter raffen. In den Cities der Highspeed-Metropolen
reißt es wie in Stromschnellen jeden mit. Sogar Hippies,
die auf jede Handlung verzichten wollen, beschleunigen ihr
Geh-Tempo. Wenn dich die Termine erdrücken,
braucht es enorme Stärke, selbst die Termine zu erdrücken.
◙ Hobby: Interessant ist die These, dass Burnout weniger
von der Arbeitsbelastung kommt als vielmehr vom fehlenden,
begeisternden Hobby. Dies kann so schön die Akkus aufladen,
dass einem auch viel Arbeitsstress nichts anhaben kann.
◙ Simplify und downshiften: Dies ist relevant bei Berufen,
in denen sehr viel gearbeitet und viel Geld verdient wird.
Branchen, die von der Leistungsgesellschaft ausgeschlossen
sind, wie Beamtenbüros, Bundeswehr und Vatikan sind eher
nicht betroffen: Papst Johannes, der XXIII wurde einmal gefragt:
Wieviele arbeiten eigentlich im Vatikan? Er antwortete:
Ungefähr die Hälfte. In hochkarätigen Rechtsanwaltskanzleien
wird gerne über 80 Wochenstunden gearbeitet.
Mit der Arbeitsverdichtung steigt die Sehnsucht nach Ausgleich
und Urlaub. Ein Rechtsanwalt forderte bei doppelter Arbeit
doppelten Urlaub, also zwölf Wochen. Die nahm er an
einem Stück. Es gefiel ihm so gut, dass er nicht zurückkehrte.
Ein Freund fragte ihn, womit er denn jetzt sein Geld verdiene.
Er antwortete: Zunächst mal mit gar nichts, da er heftig
downshiftet: Yacht verkaufen, statt Haus kleine Hütte,
statt Benz Pedelec. Sein Lifestyle kostete nicht mehr 20.000 €
pro Monat, sondern nur noch 2000. Seine Ersparnisse
würden für 30 Jahre reichen. Das Beispiel ist krass,
aber es weitet den Spektrum des Möglichen:
Es gibt tatsächlich Alternativen zum WWW
= wahnwitzigen Wohlstandswachstum.
◙ Der geldgierige Unternehmer (der GGU):
Der GGU gewährt Vergünstigungen nur, um mehr Leistung
aus seinen Mitarbeitern zu pressen. Da Burnout-Ausfälle
ungeheuer teuer sind, werden auch Resilienz-Seminare gewährt.
Diese sollen jedoch nicht mehr erreichen, als einen Burnout
zu verhindern und Kraftreserven zu Selbstausbeutung
zu mobilisieren. Ansonsten gewährt der GGU nur streng
fachbezogene Fortbildungen. Der GGU misst pingelig
die Arbeitszeit. Pausen sind unerwünscht. Wenn Mitarbeiter
früher gehen, werden sie schief angesehen:
Der hat wohl nichts zu tun!
Der GGU nimmt keine Rücksicht auf Individuelles.
◙ Der humane Unternehmer (HU): Der HU unterstützt
die Persönlichkeitsentwicklung seiner Mitarbeiter umfassender
als der GGU. Er lässt z. B. kulturträchtige Betriebsausflüge
organisieren. Der HU ist kulant mit der Arbeitszeit:
Ich zahle Leistungshonorare und keine Anwesenheitsprämien!
Wer früher geht, ist nicht faul, sondern schnell.
Der tiefere Sinn liegt darin, dass man für schöpferische Muße
nicht zu erschöpft sein darf. Pausen sind ausdrücklich (!)
erwünscht, weil sie Betriebsklima, Zusammenhalt, Austausch
und Kreativität fördern. Powernapping wird toleriert,
Schlaftypen (Lerchen und Eulen) und planbare Freizeit
werden berücksichtigt. Es gibt eine breite Gleitzeit und
Arbeitszeitverkürzungen sind gut verhandelbar.
Die so genannten Faulen sind einfach nur die, die mehr
Eigenzeit wollen. Diese intrinsisch motivierten Typen sind
meist auch die kreativeren. Der HU nimmt Rücksicht auf
individuelle Varianten: Er kennt Typen und ihr Arbeitsverhalten:
Alle haben Stärken und Schwächen, z. B. Ennea-Muster 9:
Stärke: Harmonie, Schwäche: Gemächlichkeit bis Zähflüssigkeit.
9er sind die phlegmatischen, gemütlichen Typen, die
möglicherweise schon als Kleinkinder über die unermessliche
Weite ihres Laufstellchens stöhnten. Aber der HU lässt den
9ern ihr gemächliches Arbeitstempo. Nicht nur, weil sie auf
Druck sauer und defensiv-aggressiv langsam werden,
sondern weil sie zu einem positiven Arbeitsklima erheblich
beitragen. Da 9er sich selten trauen, früher nach Hause zu
gehen, schickt der HU sie mitunter selbst vorzeitig weg:
Daraus ergeben sich win-win-Ereignisse: Wenn 9er ihre Stille
Stunde haben, produzieren sie mehr Kreativität als andere.
Zeitstress verstopft den schöpferischen Kanal.
Wer hetzt, zerstört sein Talent (P. Ustinov).
Der HU hat eine starke rechte Hand, sodass er selbst
Zeit für den langsamen Zeitmodus hat.
Neulich las ich ein starkes Büch über Burnout
von einer Dr. M. Priess (Psychosomatik Hamburg).
Sie sieht Burnout umfassender:
Zeitliche Überforderung sei nur vordergründig die Ursache.
Hauptursache sei ein "uneigentlicher" Lebensstil.
Priess´ Fazit kann bei mir angefragt werden.
12
Muße-Modus
Empfangen statt machen
Was ist so toll am Muße-Modus?
Er ist ein total anderer Seinsmodus.
Muße ist geistig-seelisches Atemholen.
Anhalten – der Körper holt Luft. Stillhalten – die Seele holt Luft.
Versenke dich in deine eigene Tiefe und suche nach der Mitte
deines Wesens und deines Lebens.
Eine Kultur der Stille ist der Anfang der Weisheit.
(Lärm als üblen Stressor zu erkennen, ist richtig.)
Die Haltung ist empfangend. Man verfolgt kein Ziel, sondern
öffnet sich. Astrid Lindgren sagte in einem TV-Interview:
Und dann muss man auch noch Zeit haben, einfach dazusitzen
und vor sich hin zu schauen. Auch H. Hesse hielt
chronische Eile für den gefährlichsten Feind der Freude.
Der Zustand ist einfach und doch schwer: Nichts denken,
nichts machen, nichts können, nichts haben, bloß sein.
Der Modus bewirkt Vertiefung, Verinnerlichung, Sammlung,
innere Verfeinerung, Kräftigung, Bewusstseinserweiterung,
Durchseelung, Klärung, Verwurzelung, Verwandlung,
Erneuerung, Reifung und Erfüllung (K. Tillmann).
So etwas lernt man natürlich nicht in übertriebenen
Leistungsgesellschaften. Muße ist also wesentlich mehr als
bloße Erholung von der Arbeit für die Arbeit.
Dafür haben wir die Freizeit. Muße-Zeit ist etwas Drittes.
Ich habe es mit 65 immer noch nicht verinnerlicht.
Auch in meiner Herkunftsfamilie waren und sind wir aufs
Machen dressiert – verzeihlich nach dem WK II.
Eine schöne, witzige Veranschaulichung des Wesens der Muße:
Kaffee-to-go schmeckt nicht so gut wie Kaffee-to-stay,
obwohl es dergleiche Kaffee ist. Genuss braucht verweilen.
Man tut nichts und ist davon erstaunlich erfüllt.
Selbstoptimierungs-Freaks stellen verblüfft fest,
(Achtung: paradox) dass zur vollen Selbstoptimierung
Zeitfenster ohne Selbstoptimierung zählen.
Man schaltet herunter, die Zeit dehnt sich, wobei sie aber
nicht langweilig, sondern intensiv wird.
Diese seltsame Erfahrung soll aber eine Bedingung haben:
Man bedarf eines lebhaften Innenlebens, viel Phantasie und
einen gebildeten geistigen Horizont. Das italienische
dolce far niente braucht Talent zum Tagträumen und eine
gewisse innere Produktivität. Ähnliche Begriffe im
semantischen Umfeld sind Panoramabewusstsein,
Resonanz und Achtsamkeit. Der Muße-Zustand kommt
nicht abrupt auf: Man muss zunächst leer werden,
denn so sagt es eine Zen-Weisheit – hier wiederhole ich mich
gern: In eine volle Tasse kann man nichts mehr eingießen.
Obwohl man jede Zielorientierung fahren lässt, können sich
in Mußestunden über unbewusste Prozesse große
Entscheidungen und Einfälle konstellieren. R. M. Rilke
vermutete gerade in der Muße besonders tiefe Tätigkeit.
Er fragte sich, ob nicht unser Handeln selbst, wenn es später
kommt, nur der letzte Nachklang einer großen Bewegung ist,
die in untätigen Tagen in uns geschieht. Netter Nebeneffekt
gelungener Muße: Heiterkeit kommt oft auf. Flanieren,
tagträumen, die Seele baumeln lassen – und die herrliche
Trödelzeit wird zur Blödelzeit im besten Sinne.
Die Mußefähigen beherzigen alle den biblischen
,,Faulenzer-Befehl“: Sechs Tage sollst du arbeiten,
am siebten Tag sollst du ruhen! Kluge und Weise halten
die Aufweichung des arbeitsfreien Sonntags für ein
Dekadenz-Zeichen. Ohne Sonntag gibt es nur noch Werktage!
Wie seltsam beglückend können Tage sein,
an denen man nichts weiter vorhat.
Kurz: Die Musen küssen uns nur bei Muße – welche Wonne:
Mußezeit ist gewonnene Zeit, nicht verlorene!
13
Zeitsouveränität
Vita aktiva UND vita contemplativa
Lebenskunst ist zum großen Teil der gekonnte Wechsel
zwischen Hamsterrad- und Hängematten-Modus.
Es ist die Fähigkeit, zwischen beiden Zeit-Modi
klug abzuwechseln. Time is money UND time is honey.
Populär geworden ist der Begriff der Work-Life-Balance.
Poetisch und anschaulich ist das Naturbild von
Stromschnelle und ruhigem See. Ermöglichen und ergänzen
lassen sich beide Zeit-Modi durch die Maxime:
Man braucht Schnelligkeit, um sich Langsamkeit
leisten zu können (K. P.). Wer das schafft, ist deutlich
zufriedener und glücklicher. Einmal schaffte ich
drei Erledigungen in 30 Minuten und danach nahm ich
mir eine Stunde zum Trödeln und Blödeln – genial.
Das sollte mir öfter gelingen. Bekannt ist das sehr alte
und bewährte Sprichwort Eile mit Weile. Es soll das
Lieblingssprichwort von Orgasmus von Rotterdam gewesen sein.
Wer nur einen Modus lebt, landet im Burnout oder im Boreout.
Intensives Powern macht nur Freude, wenn es sich mit
köstlicher Entspannung abwechseln kann.
Spitzenspruch von D. Sölle: Die Träumenden zum Handeln,
die Handelnden zum Träumen bringen.
Es gilt also, den Schalter geistesgegenwärtig von Aktion auf
Muße umzulegen und sein Zeitempfinden vom
(empirisch-physikalischen) Chronos- auf das Kairos-Gefühl
(Sinn und Bedeutung) zu verlagern. Hier erlebt man die Zeit
bewusster und kostet sie aus. Das Kairos-Zeitempfinden ist
langsamer, spielerischer, feiner, wachsamer, meditativer,
träumerischer, hörender. Es ist das Gespür für den richtigen
Augenblick, für Spontanität, Zufälle und Inspirationen.
Der Kairos-begabte Typ verpasst keine Chance.
Der biblische Kohelet 1,1 ist sehr gescheit: Alles zu seiner Zeit,
doch um zu wissen, was dran ist, brauchst du Wachsamkeit!
Wenn jemand mit einer 60-Stunden-Arbeitswoche angibt
und meint, er sei ein supertoller Tüchtiger, dann frage ich ihn,
ob er auch den Tatbestand der „pathologischen
Leistungsbereitschaft“ kenne. Da fällt der Muße-Modus fast
komplett aus und ich prophezeihe dem Turbo-Typen:
Ich gebe dir noch zwei Jahre, dann beginnen deine
Schlafstörungen: Obwohl du völlig übermüdet bist,
kannst du nicht gut einschlafen. (s. Artikel 11 „Burnout“ ).
Wie seltsam beglückend können Tage sein, an denen man
nichts weiter vorhat! Diese Erfahrung kommt für viele
„Gschaftelhuber“ wie eine Überraschung.
Nach dieser Erfahrung sind sie selbst verantwortlich,
diesen Aspekt der Zeitsouveränität zu erhalten:
Es ist praktisch ein Gradmesser der Lebenskunst, sich voll
bewusst und hochaktiv dem Beschleunigungs-Wahn
zu entziehen. Schluss damit also, tagsüber von lauter Hetze
keine Zeit zum Glücklich-Sein zu haben und abends dafür
zu müde zu sein. Man lerne umzusteigen, Ballast abzuwerfen
und sich von vorne herein nicht zu viel vorzunehmen.
Streichen, lassen, sich beschränken.
Es ist klug, das inspirierende Nichtstun zu kultivieren.
Die Kunst, glücklich zu sein, liegt in der Beschränkung
(W. Schmid).
Das Aussortieren des Unwesentlichen
ist der Kern aller Lebensweisheit (Laotse).
14
Langweile
Boreout ist ähnlich ätzend wie Burnout
Neben den „Burnis“, den „Stressbolzen“ gibt es eine zweite
riesige Unglücksgruppe: Die Arbeitslosen, die zu viel Zeit haben,
die sie als langweilig empfinden und daher totschlagen wollen.
Das Drama ist, das die Zeit sich nicht ermorden lässt.
Man kann nur ihr zutage-Treten verhindern, was meist durch
oberflächlichen Konsumismus geschieht.
Jetzt kommt etwas Paradoxes: Psychologen fanden heraus,
dass das Boreout und Burnout oft miteinander auftauchen,
obwohl es gegensätzliche Pole sind.
Welche seelische Disposition kann denn beides bewirken?
Es sei eine eigenartige Oberflächlichkeit:
Ohne Tiefsinn plätschert man an der Benutzeroberfläche
des Lebens: Man schüttet sich mit suchtartigen Tätigkeiten zu:
Im Job (getriggert durch Geld- und Konsumsgier)
ist es bloßes Funktionieren ohne Sinn, in der Freizeit ist es ein
Hetzen von Event zu Event, sodann mediale Zerstreuung.
Und wenn einmal Ruhe einkehrt (im Job steht mal nichts
Wichtiges an), entsteht Langeweile: In der Freizeit das totale
Null-Bock-Syndrom, phantasieloses Herumhängen,
muße-unfähige gähnende, bleierne Leere, versteinerte Starre,
totale Monotonie, die lähmende Macht von Sterbenslangeweile,
keine Intensität, keine Vitalität, nichts animiert mehr.
Dieser Zustand ist so schrecklich, dass man lieber zurück
in den Aktivismus flüchtet, in diese überbordende Fülle und
Reizüberflutung einer Multioptionsgesellschaft,
die dies möglich macht. Da kann man sich noch mit Kicks
und Events stimulieren, um seine Restlebendigkeit zu spüren.
Im Roman „Momo“ von Michael Ende: Denn in der Stille
überfielen sie Angst, weil sie ahnten, was in Wirklichkeit mit
ihrem Leben geschah. Darum machten sie Lärm,
wann immer die Stille drohte.
Mit Lärm sind laute, lustige Lüstchen gemeint.
Leider sind sie in Wahrheit lau. Wenn Tiefe fehlt,
macht man es gerne durch Breite wett – das Verhältnis
ist kompensatorisch. Ein sinnreicher Spruch:
Nach Vergnügen rennt, wer keine Freude kennt.
Die Langeweile ist freudlos. Wer sich das komplexe Gebilde
der Freude nicht aufbauen kann, der versucht,
dieses Defizit durch leichter herstellbarer Vergnügungen
aller Art zu ersetzen. Wer in seinem Streben nach einem
tiefen Lebenssinn enttäuscht wird, in dem bricht ein Trieb
nach Vergnügen auf. Wer genau hinschaut, sieht hinter den
lachenden Gesichtern eine Spur Verzweiflung.
Der Begründer der Logotherapie V. Frankl spricht von
noogener (geistiger) Depression. Burnout und Boreout als
Analogie zu Manie und Depression. Das Lähmende der
Langeweile erinnert an die Antriebsstörung, die man bei
allen Depressionen sieht. Der pathologische Dreiklang heißt :
Arbeitssucht, Vergnügungssucht (= Konsumismus), Langweile.
Wie würde der gesunde Dreiklang heißen?
Arbeit als Lebensaufgabe, Freizeit mit individuell genau
passendem Hobby, Muße mit Phantasie.
Die seelische Grundierung oder Disposition ist gekennzeichnet
durch Präsenz, Achtsamkeit, Resonanz, sinnliche
Empfänglichkeit und gebildeter Geistigkeit.
Hier besteht eine lebendige Wechselwirkung zwischen
Seele und Welt, die als zutiefst sinnvoll erlebt wird.
15
Der Augenblick
Physikalisch-philosophischer Exkurs
Was ist ein Augenblick? Kurz, sehr kurz, unendlich kurz.
Ist er da, ist er schon weg. Da er keine zeitliche Ausdehnung hat,
gehört er eigentlich überhaupt keiner Zeit an!
Oh weh, dann wäre alles zu Ende, ehe es begonnen hat?
Nein, es ist ja sofort ein neues Gegenwarts-Partikelchen da!
Und nur dieser Umschlagpunkt von Zukunft zur
Vergangenheit ist voll real, nämlich als Ort möglicher Taten!
Tatsächlich: Ich habe noch nie in der Vergangenheit oder
Zukunft gehandelt. (Die Theorie der Zeitsprünge, wie sie in den
SF-Filmen vorkommen, wage ich nicht zu beurteilen.)
Die Zeit hat im und als Augenblick ihr höchstes, ihr intensivstes,
ihr eigentliches Sein. Weil ständig neue
Gegenwarts-Partikelchen kommen, ist die Flüchtigkeit
des Augenblicks gleichzeitig die Permanenz des Jetzt.
Der Augenblick ist das Kontinuum der Jetzt-Punkte.
Die Zeit verginge dann relativ zu einer Gegenwart, die dauert.
Diese Gegenwart wird erlebt als das Da-Sein der
Geistesgegenwart. Wann ist jetzt? Immer!
Für den Wachsamen ist der Augenblick das sinnlich
gewordene Stück der Ewigkeit. Der Augenblick ist nicht
eigentlich das Atom der Zeit, sondern das Atom
der Ewigkeit (S. Kierkegaard). Hier ist der Punkt,
wo Zeitempfinden ein mystisches Moment bekommen kann:
M. Buber nannte den Augenblick einmal das Gewand Gottes.
Wenn wir Körper und Geist auf den gegenwärtigen
Augenblick zentrieren, berühren wir etwa Erfrischendes,
Heilendes und Wunderbares. Ein Frommer formulierte:
Der Geist der Achtsamkeit, das ist der Heilige Geist,
der gerade bei einem Halt macht. Weise der Mensch,
der ein Gespür für den Augenblick hat. Der weiß,
wann etwas dran ist. Die Herrschaft über den Augenblick
ist die Herrschaft über das Leben (M. v. Ebner-Eschenbach).
Der große Achtsamkeitstrend hat hier seinen Ort.
Darf man denn gar nicht in Vergangenheit oder Zukunft
abschweifen? Doch – wenn die Gegenwart völlig unergiebig ist.
Vergangenheit: In schönen Erinnerungen schwelgen.
Zukunft: Phantasievolle Planungen als Vorfreude auskosten.
Ein Spruch sagt es so: Sei ruhig mit einem Bein in der
Vergangenheit und mit einem Bein in der Zukunft, aber dein
Herz und deine Sinne gehören dem gegenwärtigen Augenblick.
Streng genommen geschehen Erinnern (= Vergangenheit)
und Planen (= Zukunft) auch nur in der Gegenwart,
dass man mit E. Tolle (the power of now) logisch
argumentieren kann: Vergangenheit und Zukunft sind reine
Konstrukte. Die Zeit, in der es keine Zeit mehr gibt,
ist die einzige Zeit, die es gibt. Für E. Tolle ist
Gegenwärtigkeit die Schlüsselstelle zur Spiritualität.
16
Der Stuhl
Monotonie-Zuschlag
Was kostet der Stuhl? – 100 €.
Was kostet es, wenn du mir davon zehn zimmerst? – 2000 €.
Wieso nicht 1000 oder 900 wegen des Mengenrabatts? –
Wenn ich immer das gleiche machen muss,
nehme ich den Monotonie Zuschlag,
der beträgt das Doppelte.
Niemand vergeude sein Leben mit der
hirnlosen Wiederkehr des ewig Gleichen!
Wer die 30-Stunden-Woche fordert, sabotiert nicht
das Leistungsprinzip, sondern die Einseitigkeit.
17
50 oder 30-Arbeitsstunden-Woche
Ein überraschend großer Unterschied!
Dieser Abschnitt gilt nur für Arbeitende, die etwas
Hochspezialisiertes machen, was also nicht gerade den ganzen
Menschen beansprucht, ein Job, in dem er sich wie ein
ersetzbares Rädchen vorkommt und in dem praktisch
keine Flow-Zustände (Glück im Arbeitsprozess) aufkommen.
Leider soll das nach Umfragen in über 80 % der Fall sein.
Zwei völlig verschiedene Leben:
Die Personen A und B gehen beide einer erwerbsmäßigen
Tätigkeit nach, die nicht sonderlich ausfüllt:
A stellt Klodeckel, B Pappkartons her. A will Karriere machen
und viel Geld verdienen, B will auch seine Persönlichkeit
entwickeln und sieht Bildung, Kultur und Muße (BKM)
als wertvolle Glücksquellen an.
A arbeitet 50 Wochenstunden
A kommt erst um 18:00 Uhr von der Arbeit nach Hause.
Eigentlich wollte er noch etwas unternehmen, aber er fühlt
sich irgendwie zu ausgepumpt, um noch anspruchsvollen
Interessen nachzugehen. Wen wundert es? So ruht er sich
zuhause aus und verschläft die letzte Sonnenstunde.
Um 20 Uhr checkt er noch ein paar Mails.
Anschließend schaut er Fernsehen, trauert um die
verlorene Zeit und verdämmert sprachlos.
B arbeitet 30 Wochenstunden
B arbeitet von acht bis 14 Uhr bei zwei kleinen
Besprechungspausen. Um 14.30 Uhr ist er schon zuhause,
isst etwas und macht dann ein Nickerchen.
Um 16 Uhr beginnt für ihn das authentische Leben
mit frischer Kraft für Sport, Erledigungen,
Bildung, Kultur und Muße. Um 20 Uhr radelt B zu einem
Vortrag, den er sich bei einem regionalen Bildungshaus
herausgesucht hatte. An der anschließenden Diskussion
beteiligt sich B recht engagiert.
Wenn A und B anfangs noch ähnliche Typen waren,
so sind sie dies nach 20-40 Jahren mit Sicherheit nicht mehr
und zwar keinesfalls nur äußerlich: A hat Karriere gemacht
und lebt im Luxus, zu einer reifen Persönlichkeit ist jedoch
nicht herangereift. Im Gegenteil: Er ähnelt zunehmend
seinem Produkt. Die Person B hat nur einen geringen
Lebensstandard, aber sie sieht irgendwie lebendiger, erfüllter,
glücklicher aus. Was hat diesen Unterschied formal bewirkt?
Ich behaupte: Zum größten Teil die ganz einfache Tatsache,
dass A zwei bis drei Stunden später erst mit der Arbeit fertig
wurde. Der amerikanische Wirtschaftsexperte J. Rifkin sagte:
Die 30-Stunden-Woche sollte die Hauptforderung
der Beschäftigten in Deutschland sein.
Das Urgesunde der mediteranen Menschen
ist vielleicht weniger die gesunde Ernährung,
sondern der täglich gefeierte Feierabend.
18
BKM (= Bildung, Kultur und Muße)
Die Vision einer neuen Zeit-Säule
Beruflicher Erfolg macht nicht mehr glücklich, wenn ihm
zu viele andere Glücksquellen geopfert werden (K. P.).
Man kann es drehen und wenden wie man will:
Wer erst nach 18 Uhr vom Arbeiten zurückkommt,
ist zu müde für größere Unternehmungen!
Und so gehen die besten 45 Jahre dahin.
Ich weiß, dass ich hier etwas übertreibe.
Viele sagen, der freigeschaufelte Mittwochnachmittag reiche
doch für besondere Aktivitäten. Ich antworte dann:
Mag sein, aber eine satte Säule für BKM
(= Bildung, Kultur und Muße) kann nicht entstehen.
Man hat zwar Zeit für Familie, Freunde und Sport,
aber dann ist der Tag voll, sogar übervoll.
Vielleicht ist noch ein Theater- oder ein Konzert-Abo drin,
aber das ist das Maximum der Möglichkeiten.
Jetzt auch noch einen Vortrag oder Kunstausstellung
besuchen oder Musik hören, ein Lied singen,
zum Baggersee fahren, ein Buch lesen oder eine
stille Stunde der Muße, um einfach nur in der Sonne zu liegen,
dem Wind zu lauschen, in die Sterne zu gucken und den
Duft der Luft zu schmecken, ist einfach nicht zu schaffen.
Richtig! Ein freier Mittwochnachmittag reicht dazu nicht.
Die Ausrede, doch nach dem Ruhestand sich Erhabenerem
zu widmen, funktioniert nicht, weil da das Oberstübchen
nur noch in luziden Intervallen bewohnt ist –
und Hirnschrittmacher gibt es noch nicht.
Man kann es drehen und wenden, wie man will:
Nur die 30-Stunden-Arbeitswoche ermöglicht
diese vierte Zeitsäule:
Arbeit
|
Privatzeit
|
Freizeit
|
BKM
|
Natürlich verdient man ein Viertel weniger, hat nicht mehr
10.000 Dinge, sondern – ach du Schreck – nur 7.500 Dinge
im Haushalt. Handy und Fernseher werden drei Jahre
länger benutzt, Dinge werden repariert.
Freilich ist dieser Schritt von der 40- zur 30-Stundenwoche
hammerhart, denn der Verzicht liegt uns nicht!
Es ist jedoch auch gut möglich, dass der Lebensstandard
nur ein klein wenig sinkt, da wir mittlerweile KI und
Robotisierung perfektionieren. Experten beteuern,
dass uns damit die Arbeit ausgehen könnte.
Zusatzbedingungen sind natürlich bezahlbarer Wohnraum,
angehobener Mindestlohn und vielleicht das BGE.
Dass wir im Konsumieren jedoch reduzieren müssen,
erfordert der „planetarische Schraubstock“:
Bis genug saubere Energie da ist, möge, sollte – nein,
muss die erste Welt Suffizienz üben für die Folgegenerationen.
Kurz: Weniger Arbeit, weniger Geld, weniger Besitz,
weniger Konsum, weniger Umweltausbeutung.
Dieser Verzicht ist gut tolerabel, wenn wir Geschmack
an der Seins-Orientierung bekommen würden:
Reduzieren wir uns auf das Wesentliche, gewinnen wir
durch Verzichten, werfen wir doch Ballast ab, um zu steigen,
simplifizieren wir unser Leben! Kultivieren wir
die Eleganz der Einfachheit, diesen Luxus der Weisen,
der uns eine herrliche Freiheit verschafft! Schrecklich,
dass diese Idee in kein Wirtschaftsgehirn passt:
Die Idee, dass wir mit weniger Materiellem viel reicher
sein könnten. Viele realisieren ihren Beschleunigungs-Wahn erst,
wenn sie durch Krankheit auf Eis gelegt sind
und zur Besinnung kommen. Ohne diesen Umstand merken
sie tatsächlich nicht, dass sie am essenziellen,
wesenhaften Leben vorbeirauschen.
Parole: Mehr Zeit, weniger Zeug.
Ich gebe zu, dass ich leicht reden habe, da ich als Medizinmann
einen guten Stundensatz hatte. Ich glaube jedoch, dass ich
auch bei geringerem Verdienst nach 30 Wochen-Arbeitsstunden
in den Kampf für Eigenzeit gezogen wäre.
19
Muße
Konstantin Wecker
Einfach wieder schlendern,
über Wolken gehen
und im totgesagten Park
am Flussufer stehn.
Mit den Wiesen schnuppern,
mit den Linden drehn,
nirgendwohin denken,
in die Himmel sehn.
Und die Stille senkt sich
Leis´ in dein Gemüt.
Und das Leben lenkt sich
wie von selbst und blüht.
Und die Bäume nicken
dir vertraulich zu.
Und in ihren Blicken
Find´st du deine Ruhe.
Muss an sich denn stets verrenken,
einzig um sich abzulenken,
statt sich einem Sommerregen
voller Inbrunst hinzugeben?
Lieber mit den Wolken jagen,
statt sich mit der Zeit zu plagen.
Glück ist flüchtig, kaum zu fassen.
Es tut gut, sich sein zu lassen.
Einfach wieder schlendern
ohne höh´ren Drang.
Absichtslos verweilen
in der Stille Klang.
Einfach wieder schweben,
wieder staunen und
schwerelos versinken
in den Weltengrund.
Verehrter Leser!
Drahtig, dass sie bis hier durchgehalten haben.
Menüpunkt „Zeit“ hat deshalb so viele Artikel,
weil das Thema die formale Voraussetzung ist,
sich Zeit für weiteres genüssliches Schmökern zu nehmen.
Unterstützt wird dieses Ansinnen durch den
nächsten Menüpunkt „Bildung“:
Inwiefern ist Bildung eine Glücksquelle?